Herwig Prammer: … Odysseus war ein Arsch | … Ulysses was a prick

Dass jede Generation eigene Übersetzungen von historischen Texten bräuchte, denke ich mir schon lange. Das trifft auf die Bibel genau so zu wie auf Homers Geschichten.

Odysseus, der Held.

I think every generation needs its own translations of historical texts. This applies to the Bible as it does to Homer’s stories.

Ulysses the hero?

 

 

Homer – oder wer auch immer – hat mit der Odyssee und der Figur des Odysseus eine unglaublich vielschichtige Erzählung und Figur geschaffen. Schon Sophokles steht dem „Helden“ Odysseus gespalten gegenüber. Er bezeichnet Odysseus einerseits als Vorbild für Beherrschung und Toleranz, andererseits beschreibt er ihn als windigen, sogar als schmierigen Charakter. Odysseus ist neugierig und offen, und gleichzeitig verschlagen und auffällig unmoralisch.

In einer Übersetzung aus dem Jahr 2017 wird gleich in der Einleitung der Odyssee aus der Charakterisierung „viel gewanderter“, „wendiger“, „wandlungsreicher“ – im griechischen Original „polytropos“ -, die Bezeichnung „schwieriger Mensch“, wodurch die US-amerikanische Altphilologin Emily Wilson den ersten Eindruck vom König von Ithaka doch ziemlich verändert.

Der Historiker Robert Zaretsky ist der Meinung, dass dieser Odysseus gut in unsere postfaktische Zeit passen würde, eine Ära jenseits der Wahrheit und des guten Anstands.

With the Odyssey and the figure of Ulysses, Homer – or whoever – created an incredibly complex narrative and character. Even Sophocles is already divided about the „hero“ Ulysses. On the one hand, he names Ulysses a model of restraint and tolerance; on the other hand, he describes him as a windy, even sleazy character. Ulysses is curious and open-minded, and at the same time devious and conspicuously immoral.

In her translation from 2017, US classical philologist Emily Wilson translates the original Greek term „polytropos“ from the introduction of the Odyssee into „Tell me about a complicated man“ instead of the characterisations „much wandered“, „agile“, „versatile“ which where used in former translations. So this changes the first impression of the King of Ithaca quite a bit.

Historian Robert Zaretsky believes that this Ulysses would fit well into our post-factual era, an era beyond truth and good decency.

 

odysseus #3, 2021, oil, pigment on canvas, 140 x 140 cm

 

exhib. view | ip.forum; Herwig Prammer, 42
duration: March 11 – July 31, 2021

 

odysseus #2, 2021, oil, pigment on canvas, 140 x 140 cm

 

Die verblüffende Vielschichtigkeit der Geschichte offenbart sich besonders dort, wo Odysseus – nun schon ohne seine Gefährten, die bereits alle ums Leben gekommen waren – bei den Phäaken im Ionischen Meer angespült wird. Er lauscht dort im Königspalast dem Sänger, der vom Trojanischen Krieg und den Heldentaten der Griechen erzählt, wird dabei ganz einwendig und gibt schließlich seine Geschichte preis. Dabei wird offensichtlich: Odysseus hat wiederholt die Lage falsch eingeschätzt und Fehler begangen, ja sogar teilweise wissentlich zum Nachteil seiner Gefährten gehandelt. In seiner Schilderung den Phäaken gegenüber stellt er dieses Geschehen aber durchaus anders dar, er beschönigt sein Verhalten, schiebt die Verantwortung von sich, mit anderen Worten, er lügt. Und nicht nur die Lebenden belügt er, auch dem Schatten des Achill im Hades in Bezug auf dessen Sohn sagt er nicht die Wahrheit,  sogar die Göttin Pallas Athene will er hinters Licht führen.

Homer stellt uns eine Falle, meint der Historiker Zaretsky, der Dichter würde uns subtil irreführen. Homer lässt unter anderem Odysseus die Schuld am Tod seiner Gefährten jenen selber zuschieben. Wir erfahren aber dann, dass Odysseus‘ Schilderungen so nicht ganz stimmen, Homer zwingt uns damit, Odysseus‘ Status als Held in Frage zu stellen.

Ein Held, der lügt, täuscht und betrügt? Seinen Wissensvorsprung nutzt, andere zu manipulieren auf die Gefahr hin, Wahrheit von Lüge nicht mehr unterscheiden zu können?

The amazing complexity of the story is revealed especially where Ulysses – now already without his companions, all of whom had already perished – washes up at the Phaeacians in the Ionian Sea. There, in the royal palace, he listens to the singer who tells of the Trojan War and the heroic deeds of the Greeks, becomes quite broodly and finally reveals his story.

It becomes obvious that Ulysses repeatedly misjudged the situation and made mistakes, and even acted to the detriment of his companions. In his account to the Phaeacians, however, he presents these prodeedings quite differently, he glosses over his behaviour, shifts responsibility away from himself, in other words, he lies. And not only does he lie to the living, he also lies to the shadow of Achilles in Hades about his son, and he even wants to deceive the goddess Pallas Athena.

Homer is setting a trap for us, historian Zaretsky says, the poet is subtly misleading us. Among other things, Homer makes Ulysses blame his companions for their own death. We then learn, however, that Ulysses‘ descriptions are not entirely true; Homer thus forces us to question Ulysses‘ state as a hero.

A hero who lies, deceives and cheats? One who uses his knowledge advantage to manipulate others at the risk of no longer being able to distinguish truth from lies?

 

odysseus #1, 2021, oil, pigment on canvas, 70 x 70 cm

odysseus #5, 2021, öl, pigment auf leinwand, | oil, pigment on canvas, 30 x 30 cm

 

Der US-Philosoph Harry Frankfurt unterscheidet in seinem Buch „Bullshit“ (2005) zwischen Wahrheit und „Bullshit“ (Unwahrheit, Blödsinn).

Da ist einerseits der Lügner, der bewusst täuscht und absichtlich die Unwahrheit darstellt, er kennt aber den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge.

Dann ist da aber noch derjenige, meint Frankfurt, der keine Ahnung von der Wahrheit hat, oder dem sie gleichgültig ist. Ihn interessiert nur, die Meinungen und Taten seiner Zuhörer zu manipulieren. Das gefährliche daran ist, dass derjenige ignoriert, dass nur die Wahrheit zählt, und dass diese dadurch bedeutungslos wird.

Odysseus überschreitet in seiner Geschichte diese verhängnisvolle Grenze dann aber doch nicht. Er verstößt zwar absichtlich gegen alles Mögliche, kommt aber wieder heim. Zaretsky bringt da dieses Bild von Penelopes und Odysseus‘ Bett ins Spiel, das aus dem Stamm eines Olivenbaums geschnitten ist. Das Bett ist nicht verrückbar, so wie es sich auch mit der Wahrheit verhält: sie ist tief verwurzelt und gibt Halt, meint er.

Passt doch perfekt in unsere Zeit, die Odyssee.

Herwig Prammer

In his book „Bullshit“ (2005), US philosopher Harry Frankfurt distinguishes between truth and „bullshit“ (untruth, nonsense).

On the one hand, there is the liar who deliberately deceives and intentionally presents the untruth, but he knows the difference between truth and lies.

But then there is the one, says Frankfurt, who has no idea of the truth, or who is indifferent to it. He is only interested in manipulating the opinions and actions of his listeners. The dangerous thing about the later is that he ignores the fact that only truth counts, and so this makes truth meaningless.

In his story, however, Ulysses does not cross this fateful line. He deliberately breaks all kinds of rules, but comes home again. Zaretsky brings into play this image of Penelope’s and Ulysses‘ bed, which is cut out of the trunk of an olive tree. The bed cannot be moved, as is the case with truth: it is deeply rooted and provides support, he says.

So the Odyssey fits perfectly into our time, doesn’t it?

Herwig Prammer

 

odysseus #11, 2021, öl, pigment, eisengitter, sardinendose, eisendraht auf leinwand | oil, pigment, iron, sardines can, on canvas, 140 x 140 cm

 

odysseus #7, 2021, öl, pigment auf leinwand, | oil, pigment on canvas, 30 x 30 cm

Current exhibition | ip.forum (Vienna)

Herwig Prammer: 42, Ausstellungsansichten, verlängert bis 31. Juli

 

Homepage Herwig Prammer: www.prammer.com