Evelyn Kreinecker: Mengenlehre oder Mengenleere?

Seit einigen Jahren begleitet mich die Serie Mengenlehre – immer wieder entstehen neue Werke, die auch Bezug nehmen zu aktuellem Geschehen. Bei den letzten Arbeiten waren es die Demonstrationen der Fridays for Future Bewegung, die uns nun wie aus einer anderen Zeit erscheinen. Unvorstellbar ist es geworden, dass wir uns so nahe kommen. Vielleicht werden die nächsten Bilder „Mengenleere“ heißen und auch genau das sein. Wer weiß?

Definition (Cantorsche Definition der Menge (1895))
„Unter einer ‚Menge‘ verstehen wir jede Zusammenfassung von bestimmten wohlunterschiedenen Obje[k]ten uns[e]rer Anschauung oder unseres Denkens (welche die ‚Elemente‘ von genannt werden) zu einem Ganzen.“

Die Serie „Mengenlehre“ untersucht zeichnerisch und malerisch Zusammenhänge und Dynamiken die in Menschenmengen entstehen. Große Gruppen werden zunächst immer in ihrer Gesamtheit wahrgenommen. Sie verschmelzen miteinander, einzelne Menschen lösen sich darin auf, andere stechen dennoch hervor. Manches bleibt schemenhaft, nur kurz fassbar.
Einzelne Personen tauchen auf und verschwinden wieder in der Menge, die sich mit dem Dahinter verbindet und darin auflöst. Es bleibt verwirrend.
Menschenmengen können vieles sein: mutig, stark, hysterisch, feiernd, verängstigt, übermütig, euphorisch, erschöpft, bedrohlich, fordernd, harmlos, unverschämt, neugierig, …
Aber wie entwickelt sich diese kollektive Übereinkunft?
Macht uns die bloße Ansammlung schon zu einem Ganzen?
Wie wird aus einzelnen Menschen eine Masse?
Was macht die Masse mit dem Einzelnen?
Wann ist die Menge schützend und wann wird es beklemmend?
Welche positive, welche negative Energie kann eine Masse entwickeln?
Es sind Fragen wie diese, die mich bei der Arbeit in der Serie Mengenlehre beschäftigen, denen ich nachgehe und die in den Bildern mitschwingen.

„Die meist aus der Vogelperspektive gezeigte Konzentration dynamischer Interaktionen lässt sich mit einem Blick nicht fassen, da die detailreiche Malweise jedem einzelnen Individuum seine Persönlichkeit verleiht und so um jede Figur eine eigene Sub-Szene entfaltet, die sich ihrerseits ebenso wenig festhalten lässt und an ihren Rändern in die Gesamtszene ausläuft. Der Blick oszilliert zwischen der Makro- und Mikroebene, verliert sich in Details, sucht den
Überblick, folgt Bewegungen, reagiert auf Blicke, und wird so hineingezogen in das Bild, zum Akteur in der Menge. Es scheint paradox, dass sich diese Sogwirkung trotz oder gerade durch die dokumentarische, neutral beobachtende Darstellungsweise entfaltet – der Blick kann sich nicht passiv der Interpretationsvorgabe einer geschlossen komponierten Dramaturgie anschließen, sondern taucht unvoreingenommen und auf sich selbst zurückgeworfen in die vielschichtige Szenerie ein.“
Aus dem Katalog Wegstücke: Johannes Holzmann, Kurator und Kunsthistoriker

Abbildungen:
Beitragsbild: For Future 3, Acryl, Lack, Kohle, Öl auf LW, 100 x 100 cm, 2020
Mengenlehre 1, Acryl, Lack, Kohle, Öl auf LW, 80 x 120 cm, 2015
Mengenlehre 7, Acryl, Lack, Kohle, Öl auf LW, 120 x 150 cm, 2017
Mengenlehre 11, Acryl, Lack, Kohle, Öl auf LW, 100 x 70 cm, 2018
Upcoming, Acryl, Lack, Kohle, Öl auf LW, 160 x 160 cm, 2019

Beitragsbild:

www.evelynkreinecker.at