Eva Gebetsroither: Kärtchengeheimnis (Text)

Er stand auf und umarmte sie, es war eine innige Umarmung.  Als ob er sagen wollte: „lass mich nie mehr los! Lass mich nicht alleine!“ Es war fast so, als ob er ewig auf diese Umarmung gewartet hätte. Er wollte sie auskosten, jede Faser seines Seins wollte ihre warme Haut spüren. Ihren sanften Druck, den Duft ihrer Haare, die Liebe, die er damit verband. Bis er sich plötzlich wieder losriss.

Als ob nichts gewesen wäre, setzte er sich wieder hin, auf den Boden, auf die dreckige Straße. Da wo Zigarettenstummel neben Hundekotkringel um die Wette stanken. Er setze sich einfach hin. Auf seinen gewohnten Platz. Es war wie immer. Doch seine Augen sagten, etwas hatte sich verändert. Sie leuchteten heute mehr als sonst. Sie gab ihm sein Kärtchen zurück in die Hand. Es hatte ihm schon so viele schöne Momente geschenkt. Dieses wertvolle Gut wollte sie ihm nicht nehmen. „Eine Umarmung bitte!“, stand darauf. Sie seufzte und es war ihr ebenfalls eine Freude gewesen.

Sie grüßte ihn. Er winkte ihr nach. Sie hatten einen Moment der Nächstenliebe genossen. Nicht mehr und nicht weniger, doch es hatte beide Leben verändert.

Als sie einige Zeit später wieder bei ihm vorbeikam, hatte er keine Karte mehr. Sie wunderte sich, da ihm diese doch so wichtig zu sein schien. Sie fragte ihn: „Hallo Otto! Hat dir jemand dein Kärtchen gestohlen?“ „Nein, nein, gnädige Dame. Ganz und gar nicht. Ich habe sie nur eingetauscht! Mit dem Sepp und so… Und eigentlich, habe ich heute mehr Lust auf ein gescheites Spanferkel!“ Er zeigte ihr die Karte! Darauf stand: „Bitte lade mich zum Essen ein!“ Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Sie rief im Gasthaus zur Gans an und reservierte einen Tisch. Auf dem Weg dorthin traute sie sich das erste Mal zu fragen. „Du Otto, wieso sitzt du eigentlich auf der Straße?“

Er zögerte einen Augenblick. „Gnädige Dame, das ist eine lange Geschichte. Wollens das überhaupt hören?“ Sie ermunterte ihn. „Ja, bitte erzähl!“ Dann redeten sie: vom Zirkus, Reisen, Welt, Kartenabreißen, Frau, Krankheit, Familie. Alkohol? Nein, mit Alkohol hatte er nie Probleme gehabt.

Sei redeten und redeten, bis sie das Gasthaus erreicht hatten. Otto wirkte durchaus etwas nervös. „Das hob i mir leichter vorgestellt Gnädige Dame…“ Doch sie zog ihn mit der Hand ins Lokal. Der Kellner blinzelte ebenfalls etwas nervös. Da sagte sie ihm einfach ins Gesicht: „Der Herr hat heute Geburtstag, a gescheites Spanferkel ist doch da wohl drinnen.“ Schnurstraks machte sie sich auf den Weg zu einem Tisch. Und es war ein Abend den sie niemals mehr vergessen sollte. Sie erfuhr mehr über Otto und seine Welt, seine Freunde, die ebenfalls auf der Straße wohnten, seine Krankheit, die ihm so sehr zu schaffen machte. Sie lachten und er hatte immer wieder einen derben Spruch auf der Lippe, den er wohl von all seinen Reisen mitgebracht hatte.

An diesem Abend konnte sie nicht schlafen, sie träumte immer wieder vom Zirkus und Otto. Sie fragte sich was er so mache. Als sie am nächsten Tag aufgestanden war, hatte sie ein komisches Gefühlt. Sie erledigte ihre Sachen und macht sich auf den Weg zur U-Bahn. Da kam sie wieder an der Stelle vorbei, wo Otto normalerweise saß. Doch er war nicht auffindbar! Sie fragte den Mann im Laden daneben, ob er wohl etwas von ihm gesehen oder gehört habe und dieser entgegnete ihr: „Ja, der Otto war heute da. Um halb zwölf, da ist dann plötzlich was passiert. Er hat sich aufs Herz gegriffen. Es ist ihm schlechte gegangen. Dann habe ich die Rettung gerufen. Aber der hat sich dann nicht mehr gerührt. Ich glaube, er ist noch hier verstorben.“

Es traf sie wie ein Blitz! So ein lebensfroher Mensch, wie Otto es gewesen war, konnte doch nicht einfach von heute auf morgen fort sein! Ihr liefen Tränen über die Wangen. Die kurze Bekanntschaft mit ihm, hatte ihr Leben verändert. Sie beschloss eine Rose zu kaufen und sie auf die Stelle zu legen, an der sie ihn kennengelernt hatte. Und sie dankte den Menschen, die die Kärtchen erfunden hatten. Die, die sie austeilten, wenn jemand Hunger hatte, eine Umarmung brauchten oder einfach nur jemanden zum Reden. Denn die hatten ihr das Tor zu einer Welt geöffnet, die sie nie wieder verlassen wollte. Die Welt der Nächstenliebe.

 

Erklärung zur Geschichte

Die Idee mit den Kärtchen kam mir eines Abends, nachdem ich ein paar Momente mit einem Bettler geredet hatte. Ich dachte mir, vielleicht wäre es für Menschen, die auf der Straße lebten leichter um einen Gefallen zu bitten, wenn sie ein Kärtchen hätten auf dem stünde: eine Umarmung, etwas zu Essen oder ein Gespräch. Und die Menschen die ebenfalls bereit sind diese zu teilen würden ebenfalls Kärtchen besitzen. Vielleicht hat irgendeine Organisation (der Augustin oder die Caritas oder ähnliche Vereine) Mut sich einem Projekt wie diesem zu widmen. Vielleicht wäre es eine Bereicherung, um die Kluft zwischen Arm und Reich zu überwinden. Vielleicht bleibt es aber auch nur ein Traum, von dem ich einmal dachte, er würde die Welt verbessern. Die Geschichte von Otto gibt es wirklich, der Name wurde geändert. Besonders die Straßenzeitung „Augustin“ trägt viel zum Verständnis der unterschiedlichsten Menschen und Schicksale bei. Vielleicht wollt ihr ab und zu stehen bleiben und ein Exemplar kaufen und auch lesen. Eine neue Perspektive ist eine Bereicherung für das Leben und für die eigene Seele. Vielleicht hast du ja die Energie jemanden auch einmal einen guten Tag zu wünschen und ein Lächeln zu schenken. Denn die kleinen Dinge sind auch manchmal die Größten!

 

Homepage von Eva Gebetsroither: www.eva-gebetsroither.at