Antonia Riederer: Frei sein | Being free

Ein Blick und ein kurzes Eintauchen in Antonia Riederers Bildwelt genügt, um ein Sich-wieder-Entziehen aus dieser Sphäre aufgrund des gewaltigen Ausdrucks der einzelnen Arbeiten aussichtslos erscheinen zu lassen. Mit intensiven Farben, die die Künstlerin in ausgewogenen Farbkombinationen und mit präzisen, breiten Pinselstrichen in Acrylfarbe auf Leinwand oder auf Papier setzt, schafft sie ein eigenes malerisches Universum, in dem sie von ihrer unmittelbaren Umgebung erzählt: Es sind Schilderungen ihres Alltags, Ansichten von gerade wahrgenommenen Landschaften, Portraits sie berührender Menschen oder auch persönliche Befindlichkeiten und Situationen. Sie selbst beschreibt ihre Intention: Malerei und Zeichnung machen für mich das Leben zwischen den Dingen sichtbar.“

Owing to the powerful expression of the individual pieces, a look at and brief dip into Antonia Riederer’s pictorial world is enough to make it seem impossible to ever look away again from this domain. With intensive colours in acrylic paint that the artist lays on canvas or paper in balanced combinations with precise, broad brushstrokes, she creates a painted universe of her own, in which she chronicles her immediate surroundings. These are depictions of her everyday life, views of landscapes just perceived, profiles of people with whom she comes into contact or of personal sensitivities and situations. She describes the intention for herself: For me, painting and drawing reveal the life between things.”

 

Mommy loves, 2020, Acrylfarbe auf Leinwand | acrylic paint on canvas, 100 x 100 cm

Gerade diese Prägung des Ausdrucks verlangt aber von der Künstlerin ein hohes Maß an Freiheit, ihr technisches Können und ihr Verständnis der Sinnhaftigkeit von Malerei auch auf dem Bildträger in entsprechender Form umsetzen zu können. Wie sehr sie bereits seit ihrem Studium der Malerei und Grafik an der Kunstuniversität Linz ihren Weg konsequent in diese Richtung beschritt, wird bei Betrachtung ihres umfangreichen Œuvres bewusst. Die ständige Weiterentwicklung und ein Lösen von aktuellen Normen prägen den Status quo ihrer Arbeiten. Antonia Riederer entzieht sich jeglichen zeitgenössischen Strömungen und referiert mit ihren Kompositionen auf die klassische Tradition. So weisen Arbeiten wie MOMMY LOVES und auch ZEIT-RAUM einen Konnex zu den Schemata der italienischen Renaissance und Künstlern wie etwa Piero della Francesca auf. Mit der Darstellung der Mutter, die liebevoll ihr Kind im Schoß hält, erinnert Antonia Riederer an kompositorische Techniken der charakteristischen Wiedergaben der Madonna mit dem Jesukind dieser Zeit. Jedoch transferiert die Künstlerin nur deren Struktur und Aufbau, in der Farb- und Formsprache bleibt sie der modernen Farbgebung und ihrer eigenen Sprache verhaftet. So auch in ihrem großformatigen Gemälde ZEIT-RAUM  mit einer die rechte Bildhälfte einnehmenden tradierten Darstellung zweier Portraitierter – die Hand des Mannes berührt seine Frau und verrät dabei die enge Verbindung – und einem Landschaftsausblick mit einem in weiter Ferne liegenden Massiv eines Berges, der als Blick aus dem Fenster gekennzeichnet ist und damit den Handlungsraum in die bestmögliche Bildtiefe setzt.

However, this very characterisation of expression demands a high degree of freedom from the artist, in order to be able to translate her technical skill and her understanding of the meaning of painting into the right form on the image medium. The extent to which she has consistently pursued this direction since she studied painting and graphics at the University of Art and Design in Linz becomes clear from looking at her extensive oeuvre. Continuous development and the dismantling of current norms are characteristic of the status quo of her work. Antonia Riederer bucks all contemporary trends and her compositions refer back to the classical tradition. Pieces such as MOMMY LOVES and even ZEIT-RAUM (Time-Space ) therefore display a connection to the schemes of the Italian renaissance and to artists such as Piero della Francesca. In the representation of the mother affectionately holding her child on her lap, Antonia Riederer evokes compositional techniques used during this period in the characteristic depictions of the Madonna with the infant Jesus. However, the artist transfers only their structure and composition; in the language of colour and form, she remains rooted in contemporary colours and in her own language. This is also true in her largescale painting, ZEIT-RAUM, with a traditional representation of two figures occupying the right half of the picture – the man’s hand touching his wife and thus revealing the close connection – and a landscape view with the mass of a mountain far in the distance, which is identified as a view from a window and therefore places the action area at the best possible image depth.

 

ZEIT-RAUM | Space of time, 2020, Acrylfarbe auf Leinwand | acrylic paint on canvas, 160 x 280 cm

 

Sitzende | Sitting woman, 2014, Kohle auf Papier | chalk on paper, 56,3 x 36 cm

Wie sehr die Kenntnisse der Kunstgeschichte Antonia Riederers Auffassung der technischen Umsetzung der Malerei prägen, wird auch in jenen Arbeiten bewusst, die an die Errungenschaften der Künstlergenerationen erinnern, die schließlich der Malerei zu ihrer absoluten Freiheit verhalfen. In ihrer Papierarbeit SITZENDE schafft die Künstlerin ein Umreißen des weiblichen Aktes mit wenigen Kreidestrichen, die an die Leichtigkeit eines Henri Matisse (1869–1954) erinnern. Auch die ungewöhnlich farblich zurückgenommene Arbeit AUFBRUCH rezitiert klassische Muster wie das Einsetzen einer Rückenansicht des Protagonisten, um dem Betrachter damit den geistigen Einstieg in das Bildthema zu erleichtern und eine Identifizierung mit der Hauptfigur zu forcieren. Diese gestalterische Technik ist seit jeher ein von Künstlern eingesetztes klassisches Hilfsmittel, aber besonders in Arbeiten wie den stimmungsvollen Landschaftsansichten eines Caspar David Friedrich (1774–1840) oder modernen Figureninterpretationen wie jenen von Oskar Schlemmer (1888–1943) ist es ein augenscheinliches kompositorisches Werkzeug.

The extent to which Antonia Riederer’s view of technical realisation in painting is characterised by her knowledge of art history also becomes clear in those pieces that evoke the achievements of the generations of artists who ultimately helped painting towards its absolute freedom. In her work on paper, SITZENDE, the artist creates an outline of the female nude with a few chalk lines that are reminiscent of the lightness of Henri Matisse (1869 – 1954). Even AUFBRUCH, a piece that is unusually reserved in colour, quotes classical structures such as the use of a back view of the protagonist, to make it easier for the viewer to engage mentally with the picture subject and to intensify identification with the central figure. This artistic technique is a classical means that artists have always used but it is an apparently compositional tool particularly in pieces such as the atmospheric landscapes of Caspar David Friedrich (1774 – 1840) or modern interpretations of figures such as those by Oskar Schlemmer (1888–1943).

 

Aufbruch | Awakening, 2019, Acrylfarbe auf Leinwand | acrylic paint on canvas, 159 x 270 cm

Die Loslösungen von alten Traditionen und die gewonnenen Freiheiten der Malerei in Bezug auf die Wiedergabe der menschlichen Figur, die besonders die französischen Expressionisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts prägten, inspirieren Antonia Riederer in ihren unzähligen Gemälden einzelner Köpfe, die sie ausschließlich mit klar umrissenen Formen, einem Herausstreichen des Wesentlichen und wenigen intensiven Farbstrichen charakterisiert. Wiederum bezieht sie sich mit ihren Kompositionsmitteln auf eine lange Tradition der Malerei und weniger auf zeitgenössische Normen. (vgl. STILLE) Sie konzentriert sich auf die Wiedergabe des Gesichtes, die Linien des Halses fungieren gleichsam als ein Podest und nur mancherorts werden Andeutungen der Schulterpartien sichtbar. Die stark eingesetzte schwarze Kontur definiert die Gesichtsmerkmale und die Farbigkeit übernimmt schließlich eine Charakterisierung und eine Wiedergabe des Stimmungsbildes. Die Künstlerin selbst meint über ihre Auseinandersetzung mit diesem Genre: „Das Sujet der menschlichen Figur, ganz besonders der Kopf, ist ein wichtiges Motiv in meiner Arbeit. Der Kopf ist zumeist der öffentlichste aller Körperteile, ist somit von ganz besonderer Bedeutung. Kopf, immer wieder neu formuliert, ist eine Darstellung der Verschiedenartigkeit aller Menschen. Allerdings ein Teil verbindet: der Geist, der sich in jedem menschlichen Wesen verbirgt und die Zeit überdauert.

Uncoupling from old traditions and freedoms gained by painting in respect of rendering the human form, which were characteristic especially of the French expressionists at the start of the 20th century, have inspired Antonia Riederer in her countless pictures of individual heads, which she denotes exclusively through clearly defined forms, highlighted basic features and few intensive colours. On the other hand, in her means of composition, she refers to a long tradition in painting and less to contemporary norms. In STILLE , she focuses on representation of the face, with the lines of the neck effectively functioning as a platform and hints of the shoulder area being visible only in some places. The strongly applied black outline defines the facial features and the colour ultimately assumes the character and appearance of an atmospheric picture. In respect of how she tackles this genre, the artist herself says: “The subject of the human figure and especially the head is a central theme in my work. The head is generally the most public of all body parts and therefore has a very special significance. Continuously reformulated, the head is a representation of all human diversity. Indeed, one aspect forms the connection: the mind, which is concealed in every human being and which stands the test of time.”

 

Stille | Silence, 2020, Acrylfarbe auf Leinwand | acrylic on canvas, 80 x 60 cm

Dass ihre Arbeiten eine klare Struktur und Ordnung aufweisen, ist eine stete Handschrift ihres Œuvres. Die eingesetzte Kontur als ein wichtiges gestalterisches Mittel klärt Farbflächen, streicht die Formen heraus und betont sie – ohne aber übermächtig und ausschlaggebend in der Komposition zu wirken. Auch wenn die Künstlerin Wahrnehmungen einer Landschaft schildert, werden die Klarheit der Naturformen und deren Charakter mit den Mitteln der Kunst herausgearbeitet und die Stimmung des Lichtes und des Wetters aufgrund der Auswahl ihrer Farben transportiert. In Arbeiten wie Astwerk oder auch Kraftvolle Freunde, die im Kurpark von Bad Hall entstanden sind, abstrahiert und reduziert Antonia Riederer die Formen der Baumstämme und Äste in dem Ausmaß, dass deren bildnerische Wiedergabe als ein informelles Gemälde interpretiert werden könnte.

The fact that her work displays a clear structure and order is a constant signature in her oeuvre. As a key artistic tool, use of the outline elucidates colour areas, highlights and emphasises shapes – without having an overpowering or pivotal effect on the composition. Even though the artist depicts perceptions of a landscape, the clarity and character of the natural forms are represented through art and the mood of the light and weather is conveyed through her selection of colours. In pieces such as Astwerk (Branches ) and Kraftvolle Freunde (Strong Friends), created in the Kurpark in Bad Hall, Antonia Riederer abstracts and reduces the shapes of the tree trunks and branches to the extent that their artistic rendering could be interpreted as an informal painting.

Kraftvolle Freunde | Powerful friends, 2, 2020, Acrylfarbe auf Leinwand | acrylic paint on canvas, 70 x 70 cm

Antonia Riederers Verständnis für tradierte Techniken und ihre flächige, malerische Handschrift sind prädestiniert für eine Transferierung in das Medium „Glas“. Eine zweiteilige Glastür gestaltete sie in der für die Herstellung von Glasfenstern bedeutenden Werkstätte des Stiftes Schlierbach.

Das Zusammenspiel verwendeter intensiver Farben, in flächigen Pinselstrichen auf dem Bildträger ausgeführt, und die immer wieder mit Hilfe einer Kontur strukturierten Formen charakterisieren Antonia Riederers Malstil, der nicht in ein zeitgenössisches Korsett gepresst werden will, sondern als Weiterführung einer langen Maltradition begriffen werden muss.

Antonia Riederer’s understanding of traditional techniques and her extensive, pictorial signature are ideally suited for transfer to the medium of glass. She designed a two-part glass door in the workshop at Schlierbach Abbey, which is famous for the production of glass windows.

The interplay of intensive colours used, applied to the image medium in extensive brushstrokes, and the shapes that are structured time and again by means of an outline are characteristic of Antonia Riederer’s painting style – one that cannot be squeezed into a contemporary corset but must rather be understood as the continuation of a long painting tradition.

 

Astwerk | Branches, 2014, Acrylfarbe auf Leinwand | acrylic paint on canvas, 70 x 150 cm

(Text: Gabriele Baumgartner)

 

Punkt | Period, 2021, Acrylfarbe auf Leinwand | Acrylic paint on canvas, 100 x 100 cm

Antonia Riederer: www.antonia-riederer.at

 

exhib. view: Museum Angerlehner; Foto Renate Billensteiner

current exhibition:
Antonia Riederer: FREI SEIN
MUSEUM ANGERLEHNER
Thalheim / Wels (Austria)
9. Mai – 29. August 2021
www.museum-angerlehner.at

 

Exhib. view: Museum Angerlehner, Foto: Renate Billensteiner

 

NEUES KUNSTBUCH
Rund 200 Seiten zeigen Arbeiten der letzten Jahre, Hardcover.
Textbeiträge: Christine Haiden, Gabriele Baumgartner, Marlene Gölz, Reinhard Kannonier, Andreas Strohhammer, Günther Oberhollenzer.
Im Shop des Museums Angerlehner oder direkt im Atelier erhältlich. www.museum-angerlehner.at and www.antonia-riederer.at