Hana Kuchlerova: Der Wunderheiler

Dies ist die Geschichte eines tschechischen Schäferhundes:
Er war der Hund meiner Nachbarn und er war bereits alt. Seine Bewegungen waren schon verlangsamt und er stank aus dem Maul. Sein Fell war beige – schwarz.
Er hieß Kennedy, benannt nach dem ehemaligen amerikanischen Präsidenten. Seine Besitzerinnen waren sehr stolz auf diesen Namen. Es war auch sehr mutig in diesen Zeiten seinen Hund nach einem amerikanischen Präsidenten zu nennen. Ein russischer Name wäre besser gewesen. Das sagten jedenfalls viele die bei uns wohnten.
Ich mochte Kennedy nicht so gerne, eben weil er stank und weil seine große nasse Zunge immer mein Gesicht suchte wenn wir uns im Treppenhaus begegneten. Mein Gesicht stank immer nach vergammelten Eiern wenn ich Kennedy begegnete. Und wir begegneten uns häufig, denn Frau Simikova und ihre Tochter Jaroslava lebten zusammen mit Kennedy auf derselben Etage wie wir. Kennedy wurde sehr häufig nach draußen geführt.
Sie lebten zusammen in einer winzigen Wohnung mit sehr dünnen fast papierartigen Wänden. So wie wir. Der Plattenbau war eigentlich kein  Plattenbau, sondern ein Pappbau. So dünn und leicht kam er einem vor.
Zusammen waren Mutter und Tochter ungefähr 106 Jahre alt. Sie liebten Tiere.
Ich hörte Kennedy abends oft bellen, wenn Frau Simikova und Jaroslava die Tauben aus ihrem Küchenfenster fütterten. Das Küchenfenster war direkt neben unserem Küchenfenster.
Die beiden Frauen riefen im Chor: Kommt nur, kommt ihr süßen Lieblinge! Kommt nur her unsere Kinder!
Und sie kamen scharenweise ans Fensterbrett geflogen. Den ganzen Tag trieben sich die Tiere auf den Spielplätzen und Parkplätzen der Plattenbausiedlung herum. Sie langweilten sich. Fanden nur ab und zu ein paar Abfälle oder andere tote Tauben zum Fressen.
Sie warteten nur auf die dünnen Stimmen der Simikovas.
Sie wechselten sich ab auf dem Fensterbrett und erhielten die Kostbarkeiten, die Frau Simikova für sie zubereitet hatte.  Die beiden Simikova Frauen lebten vegan. Sie hatten einen kleinen Mixer in dem sie grünen Brei mixten und diesen dann wie zwei Kolibris mit spitzen Mündern vorsichtig aus dünnen Plastikschälchen saugten. Ich glaube sie haben nie Schokolade probiert. Sie sahen blass aus, fast durchsichtig, zerbrechlich.
Das sahen und spürten auch die Tauben, als sie eines Abends alle in der Küche landeten anstatt sich abwechselnd auf dem Küchenbrett zu drängeln. Die beiden Simikovas rannten piepsend zu uns und überließen die Küche die ganze Nacht den Tauben.
Wie die Küche am nächsten Tag aussah, das kann man sich ungefähr denken.
Genau an diesem Abend erzählten uns die beiden Frauen auch von Kennedys unglaublicher Heilkraft.
Die Heilkraft von Schäferhundfett und die Heilkraft von Schäferhundspucke sind in Tschechien mindestens so bekannt wie das Heilwasser in Karlsbad.
Im Erdgeschoss unseres Plattenbaus lebte die Frau Janikova.
Die hatte ein Raucherbein gehabt. Es war geschwollen und mit violetten Spritzern und Punkten überzogen. Ein dunkler Lavastrand wie auf Lanzarote. Das Bein war immer wieder offen, so richtig nass an einigen Stellen. Kennedy war dann oft bei Frau Janikova zu Besuch.
Er leckte Frau Janikovas krankes Bein so lange bis es so schön war wie in ihren besten Zeiten. Die Spucke des Hundes hatte Kraft.  Sie konnte wieder laufen.
Seitdem hängt bei Frau Janikova ein gerahmtes Bild von Kennedy und sie zeigt es jedem der vorbeikommt. Kennedy war in unserer Siedlung so richtig berühmt geworden. Es kamen dann auch Anfragen von anderen Patienten mit einem Raucherbein. Aber die Simikovas wollten ihren Kennedy nun schonen da er schon so alt war. Sie liebten ihren Hund. Seine Zunge sollte seine Zunge bleiben.
Sie erzählten uns auch noch etwas über eine ganz andere Anfrage. Die Familie aus dem dritten Stock bei uns im Haus ist geflohen, in den Westen, vor acht Wochen. Mir war schon aufgefallen, dass die nicht mehr da waren. Der kleine Mirecek mit dem ich immer auf dem Spielplatz gespielt habe, war plötzlich nicht mehr da gewesen. Der Mirecek war der Neffe von der alten Simikova. Und er hatte ganz schlimme Bronchitis. Nicht heilbar sagten die deutschen Ärzte. Die verzweifelten Eltern haben die Simikovas angeschrieben, dass Hundefett, besonders das Fett eines Schäferhundes, den kleinen Mirecek wieder gesund machen könnte.
In Polen hatte eine Frau Hunde gemästet und getötet. Das Fett verkaufte sie als Medizin. Gegen chronischen Schleimhusten und Bronchitis wird das Hundefett täglich ein –bis zweimal in warmer Milch eingenommen. Das hatten die Simikovas in der Zeitung gelesen. Frau Simikova meinte noch sie würde Kennedy nie zum Schlachter geben. Das konnte ich gut verstehen. Man kann doch einen Hund nicht einfach so umbringen, nur um sein Fett zu bekommen. Kennedy war das Ein und Alles von den Simikovas. Er war ihr Beschützer, ihr Zeitungsholer, ihr Tröster, ihr Spielgefährte, einfach der Mann im Haus.
Eine Woche später bekamen die Simikovas Post aus dem Westen. Wieder die Eltern von dem kleinen Mirecek. Dem Mirecek ging es noch schlechter, so schlecht dass, er im Krankenhaus lag. Das einzige was noch helfen könnte war das Hundefett. Gibt es im Westen keine deutschen Schäferhunde? Dachte ich mir. Warum wollen sie Kennedy haben? Der kann doch noch einige Raucherbeine gesund lecken und zwar hier in der Siedlung. Bei uns und nicht dort im Westen soll er Leben retten. Obwohl mir der Mirecek leid tat.
Ich weiß auch nicht mehr genau ab wann ich keine Lebenszeichen von Kennedy mehr hörte. Aber ich glaube es war ungefähr zwei Wochen nach dem letzten Brief von Mireceks Eltern.
Es war mir auch egal. Die Simikovas liefen in dieser Zeit beide mit verweinten Augen herum. Nicht mal die Tauben bekamen ihre Ration.
Eines Abends sagte mein Vater ich soll doch mal mit ihm herüber gehen zu den Simikovas. Und ich soll meine Flöte mitnehmen. Es kam mir alles so komisch vor.
Den ganzen Tag hatte er an so einem kleinen Etikett herumgezeichnet. Er war Grafiker. Auf dem Etikett war ein kleiner Dachs  abgebildet. Es stand dort auch etwas geschrieben, aber zu der Zeit konnte ich noch nicht lesen.
Wir gingen also rüber zu den beiden Frauen. Wo ist Kennedy? Fragte ich leise. Ich bekam keine Antwort. Auf der Heizung in der Küche stand ein riesengroßes Gurkenglas mit einer gelblichen Flüssigkeit drin. Mein Vater gab Frau Simikova das kleine Etikett. Sie piepste ein leises Danke. Die junge Frau Simikova weinte leise als die alte Frau Simikova das kleine Dachsbild auf das Glas klebte. War in dem Glas ein Dachs drin? Und warum sollte ich jetzt etwas auf der Flöte vorspielen. Ich tat das, was mein Vater sich wünschte. Ich spielte und spielte und spielte. Frau Simikova packte das Gurkenglas mit dem Dachsaufkleber in ein Paket. Sie legte noch einen kleinen Brief mit hinein. Auch mein Vater legte ein Kuvert in das Paket.
Es ist besser wenn auf dem Glas ein anderes Tier abgebildet ist, so kommt an der Grenze niemand auf komische Gedanken. Sagte mein Vater. Hundefett ist nicht legal.
Als wir die Wohnung wieder verließen glaubte ich Kennedy zu sehen. Die Badezimmertür stand offen und da war doch sein Fell zu sehen. Bei näherem Hinsehen wurde mir auch klar, dass es wirklich nur sein Fell war. Ich traute mich nicht weiter zu fragen.